Vergessen?

„Wann beginnen wir, über etwas zu sprechen oder laut zu denken, wenn wir bisher darüber geschwiegen haben und es früher auch verboten war?

Auch Kollektive wie Familien, Betriebe, Vereine, Gemeinden, Staaten und Staatenbündnisse organisieren ihre stilechten Erinnerungen und lassen oft die aus, welche so gar nicht passen wollen.“

Im DENKdochMALundLESEbuch kommen Zeitzeugen anonym zu Wort, die eine öffentliche Erinnerung von bisher Verschwiegenem ausdrücklich wünschen. 



Vergessen?

Polnische und sowjetische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Raum Delbrück 1939-1945

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ISBN 978-3-98-191114-5, 199 Seiten, 20 €

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1.u 2.  Auflage 2013 vergriffen

Das Buch

LESEPROBE 1

3       Geregelter Umgang - die alltägliche Normalität der Unterdrückung

Die in der Rassenideologie favorisierte Trennung von arischen und nicht arischen Menschen wurde konsequent in die Konstruktion einer Verwaltung und Handhabung der nicht arischen Menschen umgesetzt. Entsprechend wurden sowohl den in Deutschland inmitten der Zivilbevölkerung gefangen gehaltenen Menschen, als auch den Deutschen selber Regeln für einen dieser Norm entsprechenden Umgang auferlegt.

Durch die Einhaltung der konstruierten Regelhaftigkeit wurde eine emotional als ´normal` erlebte dauerhafte Misshandlung von Menschen, die als nicht arisch eingestuft wurden, erst möglich.

Ein Zeitzeuge, der 1944 15 Jahre alt war:

„Das war so in unseren Köpfen: ´Das sind die Verbrecher´ - wir hatten keine Probleme mit denen, die waren ganz in Ordnung, die russischen Kriegsgefangenen, wir hatten keine Angst -  aber es war einfach in unseren Köpfen - wie reingehämmert : ´Das sind die Verbrecher! -Das sind die Verbrecher! `- Reingehämmert .“[1]

Aus dieserPerspektive wird deutlich, dass ein ziviles Fühlen und Denken und Wahrnehmen noch ideologisch unabhängig im kindlich konkreten Erleben möglich war. Die Bevölkerung war in der Mehrheit eine Kriegsgesellschaft.

Die ökonomische Verwertbarkeit von in ihrer Würde entwerteten Menschen, deren Handlungsspielräume so geregelt wurden, dass sie den möglichst optimalen Zweck erfüllen, ist prinzipiell eine Facette des radikalen Ökonomismus, in dem  alles erlaubt ist, was der Erreichung der eigenen wirtschaftlichen Ziele dient. Mit dem Bestreben, aus der aktuellen politischen und militärischen Situation den größtmöglichen Nutzen zu erwirtschaften, waren die ´Arbeitskräfte` aus dem Osten eine wirtschaftliche Möglichkeit, mit der es sich im Krieg überleben und gut leben ließ.

„Die Wirtschaft im Nationalsozialismus war die Wirtschaft des Nationalsozialismus. Von einer solchen Grundannahme auszugehen erscheint im Lichte des erreichten Standes der NS-Forschung mehr als plausibel.“[2] Auch in den Beschreibungen von Interviewten, die als Kinder und Jugendliche die Zwangsarbeiter erlebten, fallen Formulierungen auf, in denen deutlich wird, wie ´normal` es war, sich einen Polen, einen Russen oder eine Russin im Haushalt oder im Betrieb zu ´halten`.

Zeitzeugin 14:  „Die Männer waren ja weg.“[3]

Zeitzeuge 11: „Ja, klar hatten wir Kriegsgefangene auf demHof.“[4] 

Wie sehr die polnischen und sowjetischen Menschen darunter litten, dass ihnen eine menschliche und kulturelle Autonomie wie selbstverständlich abgesprochen wurde, wird selten thematisiert.

Das Mitfühlen und Mitleiden war durch die gezielte Aktivierung von Gefühlen wie Hass und Angst verhindert worden. Im Erleben einer entgrenzten Kriegsgesellschaft gehörte es zum normalen Alltag, Kriegsgefangene unterschiedlicher Herkunft für die eigenen Bedürfnisse zu nutzen.  

Kinder konnten die Diskrepanz unbefangen registrieren, wie auch ganz Alte. Erwachsenen, die in der ideologischen Epoche aufgewachsen und mitsozialisiert worden waren, war dies anscheinend eher nicht möglich.

Heinrich Buschmeier, aus Hövelhof, im Mai 2012:

„Wir Jungs, - wir waren so 11 Jahre alt - gingen dann zum Bahnhof, um uns ´die Bestien` - so wurde über Russen gesprochen - anzugucken, -na was wir sahen waren Menschen, - in einem fürchterlichen Zustand.“


[1] Zeitzeuge 28 im Gespräch am 21.01.2012

[2] Frei, Norbert; Schanetzky, Tim:  Unternehmen im Nationalsozialismus, zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen, 2010, S.24

[3] Zeitzeugin 14 im Gespräch am 12.07.2011

[4] Zeitzeuge 11 im Gespräch am 08.07.2011

Leseprobe 2

Exkurs                        Wie wir uns erinnern und unsere Erinnerung uns notfalls auch täuscht, um uns nicht zu enttäuschen.

 Der Zeitzeuge 36 berichtet:

“Ich habe in meiner Vorstellung ein klares Bild, dass die Zwangsarbeiter bei uns zu Hause, selbstverständlich bei meiner Mutter zu Hause an einem Tisch essen konnten. Da ist ein klares Bild. Ich war aber gar nicht zu Hause, - ich war Soldat in Rußland. Und nun (2012) muss ich erfahren, von jemand, die hier war, dass das gar nicht so war. – Die Polen aßen nicht mit am Tisch – sie kriegten einen separaten Ort. Irgendwie will das nicht in mein Bewusstsein, es passt nicht zu meinem Bild von meiner Mutter.“[1]

In der vorliegenden Arbeit kommen Zeitzeugen zu Wort, welche ihre Erlebnisse aus der eigenen Erinnerung schildern. Da dies Erinnerungen sind, welche im Bewusstsein der Betreffenden aktualisiert werden, sind auch die Bedingungen, unter denen Erinnerungen auftauchen und benannt werden, mit zu betrachten.

Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Paare, kleine Gruppen, Vereine, Gemeinden, Betriebe, Kirchen, Kommunen, Länder, Staaten und Gesellschaften erinnern sich in ihren jeweils eigenen Stilen und Techniken. Es scheint daher besonders beim Thema Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene und damit verbundenen Aspekten von  eigener Beteiligung an Unterdrückung, Ausbeutung und Verachtung interessant, sich die Strukturen der eigenen Erinnerungskultur zu vergegenwärtigen.

Das auto-biographische Gedächtnis ist an die subjektive biologische Substanz gebunden. Stirbt der individuelle biologische Träger des Gedächtnisses, stirbt dieses samt Inhalten mit. Da es kein soziales, kollektives Gedächtnis und Erinnern gibt ohne die Erinnerung der einzelnen Menschen, ist es aufschlussreich, die Strukturen des persönlichen und intersubjektiven Erinnerns zu verdeutlichen:

In der eigenen Erinnerung sind besonders Gedächtnisinhalte, Episoden, Geschichten, Erlebnisse bewusstseinsnah und abrufbar, wenn sie mit einer Emotion und besonderer emotionaler Tiefe gekoppelt sind. „Die automatische Furchtreaktion, die zur Starre oder ´Sich-Ducken` führt, wird ausgelöst, ohne dass die dazugehörige Gefahr kognitiv identifizierbar wäre - es genügt, dass bestimmte Merkmale des Objekts vom Gehirn (in diesem Fall von den frühen sensorischen Rindenfeldern) verarbeitet werden, die dann die entsprechenden biochemischen und organischenVorgänge auslösen, die zur emotionalen Reaktion führen.“[2] Besonders jeneErinnerungen zeigen sich im Bewusstsein, welche mit einem angenehmen Gefühl verbunden sind und darüber hinaus in das eigene Selbstkonzept zu integrieren sind. Andere Erinnerungen, welche mit eher negativen Gefühlen wie Scham, Schuld, Verbitterung, Neid und Hass verbunden sind, sind ebenfalls bewusstseinsnah, wenn ein solches Gefühl durch eine Situation, in die wir geraten, aktiviert wird. Die Inhalte der mit schwierigen Gefühlen verbundenen Ereignisse werden aber ungern thematisiert, ungern nach außen gekehrt oder gar untereinander kommuniziert. Sie führen sozusagen ein verdecktes Eigenleben. Manchmal sind sowohl die Gefühle und die Erinnerungen so bedrohlich, dass es viel Energie kostet, sie zu kontrollieren, damit sie nicht fühlbar, sichtbarund damit für andere verstehbar werden und gefürchtete Gefühle von realer Schuld, Betroffenheit und Verunsicherung generieren – ein alltägliches, allgemeines Phänomen.

WerdenErinnerungen an eigene Gefühle, Denkweisen, Handlungen und Impulse aktiviert, welche im normalen Bewusstseinszustand kaum mit dem eigenen Selbstbild in Einklang zu bringen sind, werden Erinnerungen auch verschönert oder radikal umgedeutet. Wir sind „Verdrängungskünstler und Rechtfertigungsartisten“[3]

Erinnerungen werden im Alltagsgebrauch also eher dann benannt, wenn sie angenehm sind. Bei dem hier vorliegenden Thema werden sie nur benannt, wenn ein besonderer Schutz vor Verletzung des Trägers der Erinnerung gewährt wird. Jeder kennt das Phänomen, eigene Fehler, Schwächen, Taten, Versäumnisse nur unter bestimmten, wirklich sicheren Bedingungen zu äußern.

Ein weitererauto-biographischer Mechanismus schützt den Einzelnen vor der Verunsicherung durch sich selbst, indem Erinnerungen verdrängt, verdreht, Verantwortungen fürdas eigene Handeln an andere, die Eltern, an Umstände, die Geschichte, den Staat  abgegeben werden oder so weitverdrängt werden, dass sie  abgespalten, quasi als Nebenprodukt der eigenen Person abgelagert werden. ´Es war damals so, die Zeit, Hitler.` Eine emotionale Verbindlichkeit ist dann nicht mehr so einfach zu erwarten. Eine vorsätzliche Form der Abspaltung besteht darin, sich bewusst zu sein, dass etwas nicht stimmt, aber jegliche Anzeichen des Erinnerns und Thematisierens von derartigen Emotionen, Gedanken und Handlungen als verwerflich, unmoralisch zu brandmarken. So wurde Wehrmachtssoldaten verboten, Bilder oder Beschreibungen von Massenhinrichtungen, Ermordungen Einzelner nach Hause zu vermitteln, da dies als „ein Untergraben von Anstand […] in derWehrmacht angesehen und streng bestraft“ wurde. Nicht die Handlung als solche, sondern das Berichten darüber war strafbar.[4] Die kommunalpolitischen Akten aus der Zeit 1933 - 1945 sind aus dem Stadtarchiv Delbrück verschwunden. Einige Ortschroniken sind säuberlich von einigen Seiten befreit worden, welche vermutlich Inhalte beschrieben, die nicht öffentlich werden sollten. Einige befragte Zeitzeugen reagierten auf Anfragen eher vorwurfsvoll oder offensichtlich vermeidend: „Wieso wollen Sie das wissen?“, „Ist doch komisch, genau an die Jahre kann ich mich überhaupt, also überhaupt gar nicht erinnern, na, das tut mir Leid.“

Analog zu den individuellen Verarbeitungs-, Verdrängungs- und Abspaltungsmechanismen organisieren auch Gruppen, Kommunen, Städte und Gemeinden, Staaten und Kulturkreise  ihre eigene Art und Weise des Verschweigens, ´Schönredens` und Verdrängens.

 Der aktuelle Fall Snowden verdeutlicht die offensichtliche Doppelbödigkeit und Scheinmoral westlicher Demokratien.   

Mehrere Zeitzeugen berichten von aktiven Nazis und überzeugten Anhängern der nationalsozialistischen Ideologie, welche ihre Überzeugung auch nach 1945 offen vertraten und im politischen Geschehen in Delbrück wie andernorts auch eine nicht unbedeutende Rollespielten.

Aus sozialpsychohygienischer Sicht kann es durchaus als konstruktiv verstanden werden, dass sich ein Großteil einer Generation stillschweigend geeinigt hat, die Vergangenheit ´ruhen` zu lassen, um sich selbst vor Irritationen zu schützen, welche sie nicht verkraften zu können glaubte. „Es bestand so etwas wie ein Tabu überhaupt darüber zu sprechen. Und man bildete sich ein, es gäbe immer Wichtigeres zu tun.“[5] Erinnerungen müssen kommuniziert werden, „[…] um erhalten zu bleiben. Wenn man über etwas beharrlich nicht spricht und es nie einen Gegenstand von Kommunikation bildet, verschwindet es ganz von selbst aus der Erinnerung.“[6] Allerdings werden die nicht offen kommunizierten Strategien der Verdrängung an die nächste Generation weitergegeben. Die real nicht beteiligten Nachkommen haben die Möglichkeit, die verschweigende und bagatellisierende, schützende Verweigerung zu erkennen und die Verstrickung der Vorfahren und Nachkommen mit dem nationalsozialistischen Habitus zu dechiffrieren.

Dabei sind Nebenwirkungen zu erwarten: Die aktuelle Rückbesinnung der Nachfolgegenerationen findet statt ohne die primären Kontrollstrukturen einer konkreten Erinnerung und eben auch ohne die damit verbundenen direkt abwehrenden emotionalen Zustände. Insofern kann nun ein Bewusstsein von Schuld, Verstrickung mit Gewalt, Macht und aktiver Unterdrückung entstehen und die damit verbundenen, bisher nicht kommunizierten Gefühle von existentieller Scham, Schuld und Ohnmacht, Wut und Trauer hervorrufen. “Als wir jedoch begannen, unsmit der Vergangenheit meiner Großeltern zu beschäftigen, stellten wir fest, dass es sehr wohl möglich ist, die Ambivalenz auszuhalten, dass „Oma und Opa“sowohl Träger des nationalsozialistischen Regimes als auch engagierte und liebevolle Großeltern gewesen waren.“[7]

Grundsätzlich werden in diesem Plädoyer keine Namen von Tätern und Täterinnen genannt, nicht um deren Haltungen und Handlungen zu verschleiern, sondern um eine nachhaltige innere Annäherung und Bewusstsein der alltäglichen Rahmenbedingungen zu ermöglichen.

Die Erziehung zur Gefühllosigkeit und Abspaltung von Empathie scheint das zentrale Merkmal einer Lebensart, die eine Grundlage für nationalsozialistisches, rassistisches Fühlen, Denken und Handeln war und ist. Eine Zeitzeugin beschrieb, dass zwei Brüder während des Krieges auf Heimaturlaub ins Dorf kamen. Die Mutter habe sie angeschrien, was sie sich einbildeten, sie sollten gefälligst das Vaterland in Rußland an der Front verteidigen. Die innere Front bestand während Krieges sowohl für die heimkehrenden Männer als auch für die männlichen wie weiblichen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen und Kriegsgefangenen mehrheitlich aus Frauen. Die Identifizierung von Müttern mit den Erziehungsstrategien des Dritten Reiches und deren Praxis scheinen weiterhin stark tabuisiert. „Nationalsozialistinnen in ihrer Funktion als Mutter sind – anders als nationalsozialistische Väter – noch sehr selten zum Thema in irgendeiner Form von Literatur geworden.“[8]

 Das ultimative Erziehungsbuch des Nationalsozialismus: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“[9] blieb bis weit in die50iger Jahre für die Erziehung von Kindern in Deutschland maßgeblich.

„Frühkindliche und nationalsozialistische Erziehung wirkte also noch lange nach 1945 fort. Das tat sie nicht nur durch Mütter, die nach dem sogenannten Zusammenbruch keineswegs ihre vorher ´bewährten` Praktiken aufgaben, sondern es geschah darüber hinaus, indem das, was Kindern zuvor angetan worden war, weiterhin wirksam blieb und bis heute zu spüren ist.“[10]    


[1] Zeitzeuge 36 im Gespräch am 27.06.2012. Vergl.: Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline, Opa war kein Nazi, Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt, 2008, S. 98 ff.

[2] Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, Eine Theorie der Erinnerung, München, 2008, S.128

[3] Ernst Klee, Persilscheine und falsche Pässe, Wie die Kirchen den Nazis halfen, Frankfurt, 2011, S.69

[4] Ernst Klee, Persilscheine und falsche Pässe, a.a.O., 2011, S.76

[5] Zeitzeugentreffen am 04.09.2012

[6] Welzer, Harald, Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen, Eine sozialpsychologische Perspektive, in: Radebold (Hrsg.) a.a.O., 2009, S.85

[7] Ustorf, Anne-EV, Wir Kinder der Kriegskinder, Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkrieges, Herder, Freiburg, 2009, S.160; vergl. auch Welzer, Harald, Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden, Fischer, Frankfurt, 2009.

[8] Chamberlain, Sigrid, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, über zwei Erziehungsbücher, a.a.O., 2010, S.9

[9] Haarer, J, Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, München, erste Auflage 1938

[10] Chamberlain, Sigrid, Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind,  a.a.O., 2010, S.9